Titel
Passagiere des Eises. Polarhelden und arktische Diskurse 1874


Autor(en)
Schimanski, Johan; Spring, Ulrike
Erschienen
Anzahl Seiten
719 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dorit Müller, Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Freie Universität Berlin

Die im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Universität Tromsø entstandene Monographie stellt ein profundes kulturwissenschaftliches Grundlagenwerk zur Geschichte arktischer Diskurse im ausgehenden 19. Jahrhundert dar. Dies mag befremdlich klingen, da die thematische Zuspitzung etwas anderes vermuten lässt. Denn die Autor/innen Johan Schimanski und Ulrike Spring legen nicht etwa ein umfassendes Set von Quellen unterschiedlicher Expeditionen eines weit gefassten Zeitraumes zugrunde und untersuchen deren historischen Wandel.1 Vielmehr konzentrieren sie sich auf nur eine Polarreise und betrachten diese „mikrohistorisch“ (S. 18) – mit dem Fokus auf deren Rezeption innerhalb einiger Monate nach deren Rückkehr.2

Methodisch stützt sich die Analyse der Rezeptionszeugnisse auf einen diskursanalytischen Ansatz. Es geht den Autor/innen um die Frage, „wie die textuellen, materiellen und visuellen Diskurse über die Expedition strukturiert wurden“ und wie sie „politische und kulturelle Agens produzierten bzw. bestätigten“ (S. 17). Eine solche Herangehensweise ist anspruchsvoll, da sie die untersuchten Zeugnisse in ein komplexes Beziehungsnetz von unterschiedlichen sozialen, politischen und kulturellen Interessen und Bedürfnissen, des jeweiligen Wissensstands sowie der Entwicklungen einer spezifisch diskursiv, medientechnisch und ästhetisch verfassten Medienlandschaft stellen will. Diesen Anspruch erfüllt der Band in hohem Maße.

Gegenstand ist die Österreichisch-Ungarische Polarexpedition, die unter Führung von Carl Weyprecht und Julius Payer von 1872 bis 1874 stattfand und als Ergebnis die Entdeckung und Kartierung des Franz-Joseph-Landes vorweisen konnte. Spätestens durch Christoph Ransmayrs Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ von 1984 sind die Umstände und Erträge dieser Expedition wieder ins historische und populärkulturelle Bewusstsein getreten. Allerdings beginnt die Rezeptionsgeschichte der Expedition weit früher, wie das reichhaltige Material und seine Analyse anschaulich belegen können. Allein die erste Phase der kulturellen Wahrnehmung, die mit der Rückkehr der Polarforscher im September 1874 beginnt und mit der Publikation von Payers Reisebericht 1876 endet, weist so überraschend vielgestaltige Präsentations- und Thematisierungsformen auf, dass die Beschränkung der Analyse auf dieses Material (insbesondere auf das von September bis Dezember 1874) nicht nur berechtigt erscheint, sondern auch besondere Aufschlüsse verspricht. Denn das weite Spektrum der Quellen, zu denen Artikel in nicht weniger als 130 Zeitungen und Kulturzeitschriften, zahlreiche Beiträge in wissenschaftlichen Journalen, Popularisierungen der Expedition in Buchform sowie künstlerische Gestaltungen der Expedition im Theater und im Feuilleton gehören, ermöglicht weitreichende Einblicke in die Arktisdebatte.

Ein solcher Band steht und fällt mit der Strukturierung und Aufbereitung der umfangreichen Materialien. In dieser Hinsicht finden die Autor/innen eine produktive Lösung. Sie wählen den Einstieg nicht über die übliche Darstellung der Reisevorbereitung und Reiseereignisse, sondern setzen mit einer umfangreichen Analyse der „Empfänge“ ein (Teil 1), die für die Heimkehrer organisiert wurden. Der Anhang listet sie akribisch in Tabellen auf: Empfänge an Bahnhöfen und in Hotels, in Wirtshäusern und Bierhallen, im Volksgarten und im Ministerium, in Akademien und Theatern, in größeren und kleineren Orten Norwegens, Deutschlands und Österreich-Ungarns. Dieser Zugang zur Wahrnehmungsgeschichte einer Polarreise ermöglicht es, den Fokus von den Ereignissen in der Arktis „auf die lokalen Kontexte zu verschieben und dadurch die Diskurse, Perspektiven und Wahrnehmungen eines bedeutenden Teils der Bevölkerung zu integrieren“ (S. 546). Im Ergebnis zeigt sich, dass die Massenveranstaltungen zur Ehrung der Polarhelden einerseits das Selbstverständnis der männlichen deutsch-österreichischen liberalen Bourgeoisie und ihren auf Wissenschaft, Männlichkeit und Patriotismus basierenden Wertekonsens bestätigten, dass sich in ihnen andererseits soziale und interkulturelle Spannungen in Österreich-Ungarn offenbarten. Das wird insbesondere an den Darstellungen der Empfangszeremonien in Satirezeitschriften und Kulturjournalen anschaulich.

Ein zweiter Teil der Monographie ist mit „Identitäten“ überschrieben und untersucht die Auseinandersetzung mit ethnischen Differenzen. Zum Untersuchungsgegenstand werden unter anderem Diskurse über den Schiffsraum, der als „Mikrokosmos der Monarchie“ (S. 221) gelten kann, weil er auf engstem Raum Offiziere und Matrosen aus unterschiedlichsten Teilen des Landes beherbergte. Weyprecht war gebürtiger Darmstädter, so dass die ambivalenten Beziehungen zwischen Habsburg-Monarchie und Deutschem Reich zusätzlich in den Blick rücken. Die Auswertung der umfangreichen Quellenmaterialien ermöglicht nicht nur Einblicke in die bisher wenig reflektierte Rolle des „heterotopen“ Expeditionsraumes Schiff, dem sowohl „identitätsfixierende“ Bedeutung als auch eine identitätsnivellierende Tendenz zugewiesen wurde (S. 221). Die Quellen geben weiterhin Auskunft über die Art und Weise, wie in den 1870er-Jahren Heldenbilder geschaffen, gesellschaftlich funktionalisiert und massenwirksam verbreitet wurden.

An der eigentlichen Entdeckergeschichte interessierte Historiker/innen und Kulturwissenschaftler/innen werden sich vor allem dem dritten Teil „Die Arktis“ zuwenden. Er zeigt die diskursiven und medialen Aneignungsformen des polaren Gebietes auf, das damals noch „in Zentraleuropa ein buchstäblich unbegreifbarer Ort“ war (S. 389). Aufschlussreich ist hier der hergestellte Bezug zum alpinen Diskurs, der das Begriffs- und Bildfeld der Arktiswahrnehmung in hohem Maße prägte. Der Vergleich demonstriert zwar wesentliche Verschiebungen im „Verhältnis von Horizontalität und Vertikalität“ (S. 401), deutlich wird jedoch, dass die Inszenierungspraktiken der „Eroberung“ (das Hissen von Fahnen, die Ausrichtung von Preisgeldern, das Bestellen von Landschaftsmalern, Formen der Vermarktung) sich auf frappante Weise ähneln. Eine weitere Gemeinsamkeit betrifft die Kartierung und Benennung der topographischen Ziele nach festgelegtem Muster mit Namen des Monarchen, der Geldgeber, Würdenträger des Reiches, berühmter Forscher und Teilnehmer der Expedition. Die detaillierte Rekonstruktion dieser Benennungspraxis erhellt sowohl die Wertehierarchie westlicher Kultur als auch den symbolischen Akt der Landnahme, durch den der geographische Ort in die „europäische Wissenskultur“ eingegliedert wird (S. 428). Dieser Zusammenhang ist der Forschung zur Entdeckerkultur zwar seit längerem bekannt, allerdings besteht ein Verdienst der Studie darin, die zugrundeliegenden Aushandlungen sowie die überwiegend in satirischen Blättern artikulierte Kritik an der Benennungspolitik aufzufinden und auszuwerten. Dies gilt gleichermaßen für die humoristischen „Fantastereien über eine Kolonialisierung des entdeckten Franz-Joseph-Landes“ (S. 459), welche zwar die Absurdität der politischen Landnahme herausstellen, dennoch Anknüpfungen an eurozentrische Vereinnahmungsdiskurse der Zeit durchscheinen lassen.

Für Literatur- und Medienhistoriker/innen ist vor allem der vierte Teil („Literatur“) von Interesse, da er sich mit Inszenierungsweisen und literarischen Transformationsprozessen des Polaren in unterschiedlichen Medien, Gattungen, Genres und Textformen des Jahres 1874 befasst. Die Verfahrensweise ist allerdings nicht unproblematisch. Um Überlappungen und damit diskursive Transfers ausfindig zu machen, identifizieren die Autor/innen zunächst spezifische Diskursstile in journalistischen Arbeiten wie z.B. Lobesrhetorik, reflexive Ironie, narratives Pathos oder wissenschaftliche Beschreibung. In einem zweiten Schritt versuchen sie dann nachzuweisen, welche „literarischen Strategien in diese Texte eingefügt wurden“ und inwieweit diese Transfers „den Weg für mehr offenkundig literarische Texte“ (etwa die Polarfiktionen von Peter Rosegger und Mór Jókai) bereiteten (S. 471). Dieses Vorgehen suggeriert nicht nur klare Abgrenzungen zwischen journalistischer und literarischer Darstellungsweise des Polaren, sondern legt auch ästhetische Transferprozesse in nur einer Richtung nahe, was angesichts der Vernetzungen in der Medienlandschaft nicht überzeugt. Wer sich für die ausdifferenzierte Polarliteratur im ausgehenden 19. Jahrhunderts interessiert, wird in diesem Teil dennoch auf seine Kosten kommen. Denn ausgebreitet und analysiert werden nicht nur Anekdoten, Reportagen, Satiren, Expeditionsberichte und fiktionale Erzählungen, sondern auch Gedichte und Theaterstücke, die im Untersuchungszeitraum aufgeführt wurden.

Trotz des immensen Umfangs ist die Studie gut lesbar und bietet aufgrund der übersichtlichen Strukturierung, einer ausführlichen Einleitung und Zusammenfassung nebst kleinerer Zwischenfazits und einem umfassenden Register genügend Orientierung und die Möglichkeit, auch Einzelkapitel mit Gewinn zu konsultieren. Die Verwendung von Fuß- statt Endnoten hätte die Lektüre noch angenehmer gemacht. Alles in allem liegt mit „Passagiere des Eises“ ein überaus lesenswertes, materialreiches und methodisch wie thematisch substantielles Buch vor, von dem nicht nur Historiograph/innen der Polarforschung, sondern auch Interessierte an Wissensgeschichte, Sozialgeschichte, Mentalitätsgeschichte sowie an Literatur- und Medienprozessen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert profitieren können.

Anmerkungen:
1 Die Geschichte arktischer Entdeckungsreisen ist bereits umfassend erforscht worden, wobei neben wissens-, sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätzen neuerdings auch umweltgeschichtliche Fragen sowie literatur- und medienhistorische Prozesse stärker in den Fokus treten. Einen Überblick zu neueren Ansätzen bietet der Band von Anka Ryall / Johann Schimanski / Henning Howlid Wærp (Hrsg.), Arctic Discourses, Cambridge 2010, S. IX–XV.
2 Dieser eher seltene Zugriff auf den historischen Gegenstand, der dominierende angloamerikanische Herangehensweisen erweitert, kann an skandinavische Einzelstudien anschließen, etwa an Per Rydén, Den svenske Ikaros. Berättelserna om Andrée, Stockholm 2003.

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